Du selbst, bei Betrachten Deines Passfotos, siehst es vermutlich als Bild. Wie sehen es Nachbarn, Familie, Freunde, Feinde? Ich schrieb ja schon weiter oben, dass der visuelle Eindruck nur ein Teil der Geschichte ist, der (überwiegende?) Rest kommt aus dem eigenen Kopf des Betrachters dazu, und macht die Abbildung gegebenenfalls zum Bild.
Eine Abbildung wird immer von einem äußeren Zwang beeinflusst; Format, Farbe, Hintergrund, Auflösung, Schärfe…….
Man sollte unterscheiden zu welchem Zweck, mit welcher Absicht ein Foto gemacht wird. Die Fotos vertrauter Personen ebenso wie die Fotos von Ereignissen sind nicht dazu gemacht, ein Bild zu sein.
Zusammenfassend würde das bedeuten, dass die Entscheidung Abbildung vs. Bild also von den Rezipienten, von der Absicht bzw. dem Zweck und/oder von den äußeren Zwängen abhängig ist. Ich möchte das mit dem folgenden Foto mal exemplarisch durchdeklinieren, wohl wissend, das das Problem dadurch jetzt nicht einfacher wird:

Bei meinem Beispiel handelt es sich um eine offenbar ca. 100 Jahre alte Schwarzweiß-Fotografie eines unbekannten Fotografen. Offenbar entstand sie anlässlich einer Hochzeit. Das Motiv ist unspektakulär, man kennt solche Fotografien aus alten Fotoalben vom Flohmarkt. Es zeigt aufgereihte Personen, die offenbar bei diesem Event damals anwesend waren. Die erkennbare Raumausstattung und die seltsame altertümliche Kleidung fallen nach Peter Geimer zum Zeitpunkt der Aufnahme in den Bereich "purer Faktizität", die keine Botschaft beinhaltet. Vermutlich hat sogar der Fotograf selbst ihnen keine besondere Bedeutung beigemessen. Es war halt die damalige Mode und seine Kamera war nur einfach technisch in der Lage, sie einigermaßen erkennbar mit abzubilden. Aus heutiger Betrachtung kommt diesen Details eventuell eine gewisse kulturhistorische Bedeutung zu.
Ist das also jetzt eine Abbildung oder ein Bild?
Wenn es vom Rezipienten (siehe oben Zitat Kurt) abhängt: Man kennt die abgebildeten Personen nicht und zeitgeschichtlich ist über sie auch nichts bekannt, insofern entsteht beim Betrachter keine emotionale Beziehung. Die fehlende Farbe schafft zusätzlich Distanz. Wenn das Foto koloriert wäre oder die Gesichter mittels der einschlägigen KI animiert wären, würde dieser Effekt die Distanz des Betrachters teilweise überwinden, aber das wäre auch ziemlich "spooky". Und ich zitiere Peter Geimer mit den Worten "Warum muss man (als Betrachter eines Fotos) drin sein?"
Nimmt man die äußeren Zwänge als Unterscheidungskriterium (siehe oben Zitat Geo), dann sind diese sicherlich vielfältig: Vor 100 Jahren unter weitgehend natürlichen Lichtbedingungen in einem Innenraum ein von vorn bis hinten scharfes Foto einer Personengruppe zu machen, in der mehrere Personen vermutlich auf Stühlen oder Tischen balancieren, dürfte den Fotografen (und die abgebildeten Personen) vor einige Anforderungen gestellt haben.
Der Zweck des Bildes (siehe oben Zitat Diesch) ergibt sich zweifelsfrei aus dem Motiv und es wurde nicht nur ein Ereignis bebildert, sondern vermutlich auch vertraute Personen abgelichtet.
Fazit demnach: Eine Abbildung, kein Bild.
Wenn wir den Fall annehmen, dass der Autor einer Fotografie diese als Bild ansieht, die Rezipienten aber nicht, ist es dann vor allem eine Frage der Distanz, mit der Betrachter auf ein Foto blicken? Und diese Distanz zu überwinden ist bei historischen Aufnahmen, Schwarzweissfotos und Fotos ohne emotionale Bindung eben schwieriger. Oder kommt es auf die Geschichte an, die ein Bild erzählt oder eben nicht? Da zeigt das Foto als Primäraussage eine Hochzeitsgesellschaft. Punkt. Nichts besonderes. Andere Dinge, die man herausliest, sind zunächst zweitrangig. Wäre die Braut in Tränen aufgelöst oder wäre so ein Foto an Bord der Titanic aufgenommen wenige Tage vor deren Untergang, wäre das vielleicht etwas anderes.
Machen Distanz durch fehlende emotionale Verbindung oder das Fehlen einer berührenden Geschichte das Foto zur Abbildung?
Jetzt mache ich es aber noch ein wenig komplexer und bringe mit meiner eigenen Beziehung zu dem Foto eine Grauzone mit ein: Es handelt sich um ein Hochzeitsfoto aus meiner eigenen Familie aus dem Jahre 1927. Alle abgebildeten Personen sind schon lange verstorben, nur drei von ihnen (das Brautpaar und die junge Frau rechts) habe ich zu Lebzeiten noch kennengelernt und da sahen sie anders aus. Die anderen Personen sind mir unbekannt, ich weiss lediglich von einigen, wer sie waren. Das einzige im Bild, das ich bis heute kenne, ist das meisterliche, stark piktorialistische, ovale Portraitfoto oben links an der Wand, weil es sich original und mit dem gezeigten Rahmen in meinem Besitz befindet. Und falls es jemandem aufgefallen ist: Der Fotograf des Gruppenfotos hat die Braut in der gleichen Körperhaltung positioniert, wie in dem Porträt an der Wand, weil es sich um die gleiche Person handelt.
Macht dieses erst auf den zweiten Blick ins Auge fallende, vielleicht sogar "augenzwinkernd" gemeinte Zitat die Abbildung zum Bild oder unterscheiden wir hier insgesamt zwischen Abbildung (das Gruppenfoto) und Bild (das Porträt an der Wand)?